Inhalt:
Am Rande einer kleinen Stadt wird über ein kleines Flüsschen eine neue Brücke geschlagen. Doch mit der neuen Brücke verändern sich auch die Menschen dieser Stadt. Ihre Angst vor Fremden und ihr Bedürfnis nach Sicherheit lassen den Rat den Stadt immer neue Maßnahmen ergreifen, die die Ordnung der Stadt sicher stellen sollen. Um die Brücke herum entwickelt sich ein Eigenleben. Als am Ende die Brücke selbst wieder abgerissen wird, bleibt dieses Eigenleben erhalten. Ein Märchen für Menschen oder Arbeitskreise, die über ihren Perfektionismus das eigentliche Ziel leicht aus den Augen verlieren.

Urheber-Info:
Diese Geschichte habe ich am 7. März 2006 als Impuls für eine dieser zahllosen Arbeitssitzung geschrieben. Als Vorlage diente ein Witz eines unbekannten Verfassers.
Die Brücke

Am Fuße eines mächtigen Berges mit dem Namen "Großer Heinrich", umringt von einem kleinen munter plätschernden Flüsschen, lag einst eine kleine Stadt. Der Rat dieser Stadt, zwölf wohlhabende und angesehene Bürger, beschloss einst, über das kleine Flüsschen eine neue Brücke bauen zu lassen. Viele kluge Menschen kamen zusammen, besahen die Umgebung, rechneten und konstruierten, besahen sich erneut die Umgebung, um dann wieder zu rechnen und zu konstruieren und schließlich war ein Plan für die neue Brücke entworfen. Danach kamen die Bauleute und schaufelten viel Sand hin und her, mauerten und schaufelten wieder Sand und nach einiger Zeit, konnten die Bürger dieser Stadt endlich ihre neue Brücke einweihen.

Kaum war die Brücke fertig gestellt, beschlich die Menschen der kleinen Stadt ein ungutes Gefühl. Ja sogar so etwas wie Angst machte sich unter ihnen breit. War da nicht unweit der eigenen Stadt eine zweite kleine Stadt, in der nur Taugenichtse und Tunichtgute lebten? Hatte man mit diesen Menschen nicht schon immer nur Ärger gehabt und sie sogar beim Stehlen und Rauben erwischt? Waren sie nicht nur faul und dumm und brachten stets Unfrieden mit in die Stadtgrenzen? Nein nein! Mit solchen Leuten wollte man nicht zu tun haben. Es musste in jedem Fall verhindert werden, dass solche Menschen über die schöne neue Brücke in die Stadt kommen konnten. Und so beschloss der Rat der Stadt einen Wächter einzustellen, der an der Brücke genau die Menschen besah und nur jenen Eintritt gewährte, die nicht zu den Taugenichtsen und Tunichtguten gehörten.

Kaum war der Wächter eingestellt beschlich die Menschen der kleinen Stadt erneut die Angst. "Was würde passieren, wenn der Wächter einmal schliefe oder erkrankte oder gar stürbe? Wer würde dann die Brücke bewachen, um die Stadt vor solchen Störenfrieden zu bewahren?" Der Rat der Stadt diskutierte lange über dieses Problem. Doch letztendlich fand man eine zufrieden stellende Lösung. Es wurde ein zweiter Wächter eingestellt, der immer dann die Wache an der Brücke übernahm, wenn der erste Wächter nicht da war.

Damit die Wächter anständig und gewissenhaft ihren Dienst versahen, musste man sie auch anständig bezahlen. Nur wer sollte dies tun? Wieder redete und diskutierte man lange und gelangte zum Schluss zur Überzeugung, dass es wohl das Beste sei, einen Kämmerer einzustellen, um ihn mit den finanziellen Angelegenheiten der Brücke und ihrer Mitarbeiter zu betrauen.

Der Kämmerer war ein kluger und gescheiter Mann, in allen Rechenkünsten der Welt bewandert. Damit er sich mit voller Inbrunst seiner wichtigen und hoch komplizierten Aufgabe widmen konnte, brauchte er für die niederen Schreibtätigkeiten einen Gehilfen. So wurde ein Schreiberling eingestellt.

In dem kleinen beschaulichen Städtchen herrschte Recht und Ordnung. Ein jeder Bürger stand des Morgens in aller Frühe auf und ging mit Fleiße seinem täglichen Handwerk nach. Nach getanem Tagewerk trafen sich die Männer im Wirtshaus bei einem Humpen Bier und die Frauen saßen zusammen und sangen die alten Weisen. Sonntags gingen alle in die kleine Stadtkirche und hörten manchmal mehr, manchmal etwas weniger zu, wenn der Pastor vom lieben Gott und den sündigen Menschen predigte. Ein jeder wusste was er zu tun hatte. Doch wie war das bei den Menschen, die bei der Brücke ihren Dienst versahen? Konnten sie, so ganz auf sich allein gestellt, überhaupt ihre wichtige Arbeit korrekt ausführen?

Und so begab es sich, dass im Rat der Stadt die Einsicht reifte, wo so viele Menschen zusammen arbeiten, müsse man doch die Arbeit besser und effizienter gestalten können. Bei diesem Problem war der sachkundige Rat eines echten Fachmannes gefragt. Für ein bescheidenes Honorar besah sich dieser das Problem, überlegte lange und kam zur Schlussfolgerung, das die einzige Lösung darin bestand, einen Koordinator mit dieser schwierigen Tätigkeit zu betrauen. Gesagt, getan. Der auf Geheiß des Rates neu eingestellt Koordinator nahm alsbald seinen Dienst zum Wohle der Brücke und der Bewohner der kleinen Stadt auf.

Die Tage vergingen, doch so sehr sich auch alle mühten, ohne einen echten Entscheidungsträger konnte und wollte die Arbeit einfach nicht so recht gelingen. Für eine solch verantwortungsvolle Aufgabe suchte der Rat den acht- und ehrbarsten Bürger der Stadt. Als er gefunden war, ernannte man ihn zum Oberamtsbrückenwart. Viele Menschen beglückwünschten ihn und wünschten ihm alles Gute bei der Ausübung seines neuen Amtes. Selbst der Pastor der kleinen Stadtkirche ließ es sich nicht nehmen, den neu erkorenen Würdenträger den Segen Gottes mit auf den Weg zu geben.

Es versteht sich von selbst, dass die getroffenen Entscheidungen des Oberamtsbrückenwartes den Mitarbeiter übermittelt werden mussten. Und so wurde noch ein Bote zur Übermittlung der Anweisungen eingestellt.

Nun aber endlich war wirklich alles soweit in allerbester Ordnung und ein jeder hätte glücklich sein können, wenn … ja wenn da eines schönen Tages der Kämmerer nicht auf ein Problem gestoßen wäre. Er kalkulierte die Kosten und stellte entsetzt fest, dass die Brücke inzwischen viel zu teuer sei und die kleine Stadt sich diese Ausgabe nicht mehr leisten könne. Eiligst wurde ein Konzept erarbeitet, um die laufenden Kosten zu minimieren. Der Rat der Stadt stimmte dankbar dem erarbeiteten Konzept zu. Man entließ die beiden Wächter und da niemand mehr da war, die Brücke zu bewachen, wurde sie einfach wieder abgerissen.

Nun, liebe Freunde … nun könnte man sich fragen, was aus den anderen Mitarbeitern der Brücke geworden ist. Sie haben wahrscheinlich die Zeit überdauert. Welche Behörde oder auch Verwaltung, welches Gremium oder auch welche Arbeitsgruppe aus ihnen hervorgegangen ist, weiß wohl niemand so ganz genau. Vielleicht sind sie einfach auch nur ein klein Bisschen überall. Überall dort, wo Menschen sich in bester Absicht treffen und über ihre wohlwollende Arbeit das eigentliche Ziel ein klein wenig aus den Augen verlieren.